Am Anfang ist es die Farbe. Nicht der Punkt, die Keimzelle jedes einzelnen Gemäldes von Antoinette Mack. Es sind auch nicht die sich daraus entwickelnden Kreise, noch deren Schnitte und Segmente, die sich verdichten, zu Wirbeln zusammen ballen oder wolkenartig auseinander stieben, nicht die unzähligen kleinen Lichtpunkte, die diese Strukturen umschließen. Diese Wachstumsspuren werden erst später als Evolution des Werkes vom Urknall bis zum vollendeten Schöpfungsakt gelesen. Nein, es ist die kompromisslose Präsenz der Farben, die den Betrachter einsaugt in einen sich entfaltenden Bildkosmos und ihn umfängt mit dem ihm innewohnenden Klang: klar und rein in dem einen Bild, kraftvoll und dissonant in dem anderen. Mal laut und euphorisch, mal sanft und zart.
Da ist zum Beispiel dieser Spiralnebel aus sechs Grüntönen, warmen und kalten, kontrapunktiert durch Rot und Blau. Die satten, tiefen Töne finden unmittelbar Resonanz in der Psyche, der Verstand kann hier nichts greifen. Aus der Bildmitte heraus sprudeln spiralförmig Farbflächen mit gebogenen Seiten hervor. Durch die Kombination von jeweils zwei Tönen entstehen klar voneinander abgegrenzte Bereiche oder Strömungen, die sich in Bewegung setzen, zum Strudel werden und sich schließlich überlagern und durchdringen. Die Bildfläche ist während des Betrachtens dreidimensional geworden, sie wölbt sich Ballon-artig nach außen, während gleichzeitig die Rot-Grün-Kombinationen den Blick schneckenförmig ins Zentrum zurückziehen. Und so beginnt das System schließlich zu atmen. Dabei greifen Blasen- und Kreisstrukturen wie Arme einer Galaxie über den Bildrand hinaus auf die Umgebung, den Betrachter über, beziehen ihn ein, machen ihn zum Teil des Ganzen. Der Titel "Lebensquell" erschließt sich durch unmittelbares Erleben.
Jedem Werk liegt das gleiche Konstruktionsprinzip zugrunde. Aus Punkt und Kreis bildet sich die DNA eines organisch wachsenden und in sich verwachsenen Systems. Seine Dynamik breitet sich vom Bildinnern ausgehend weit über seinen Rand hinaus aus, in den Raum hinein, und nimmt so Kontakt zu allem auf, was es umgibt. Antoinette Mack bezeichnet es mit dem Begriff Holon-Malerei. „Alles ist mit allem verbunden“, erklärt die Künstlerin, „nichts existiert ohne das Übrige“. Als ganzheitliches, holistisches Weltbild spiegelt sich diese Überzeugung in all ihren Bildschöpfungen wider. Sie entstehen nicht zufällig, sondern zeigen exakt definierte Energie-Strukturen – von Gefühlen, Pflanzen, Worten, Landschaften, Bewegungen. „Ich kann ein Bild niemals zweimal machen. Wenn es fertig ist, zeigt es genau das, was es ist. Denn die Energie jedes Wortes und jedes Gedankens ist unveränderlich.“
Große Harmonie und Ausgewogenheit empfängt uns beim Betrachten von „Freundschaften“. Hier halten sich warmes Gelb, helles Blau, zartes Violett und frisches Grün beruhigend die Waage. Ruhe strahlt auch der sonnenförmige Organismus in der Bildmitte aus, der an einen Fruchtstempel mit merkwürdig verschobenem Zentrum denken lässt. Um ihn gruppieren sich paarweise andere Blüten oder Kreiswolken, durch ihre Farbstellungen einander punktsymmetrisch zugeordnet und miteinander korrespondierend. Sie blühen ringförmig Kreis in Kreis auf und verzahnen sich an den Rändern mit ihren Nachbarn. Auch hier pulsiert das Leben. Das lichte Gelb strahlt überall hindurch, flutet die Formationen und löst diese an den sich verzahnenden Übergängen auf. Jeder Organismus ruht in sich selbst und gleichzeitig im Zusammenhalt mit den anderen.
„Die größte Herausforderung ist dabei zu bleiben“, sagt Antoinette Mack, die auf der nordfriesischen Halbinsel Eiderstedt ihre Wahlheimat gefunden hat. Hochkonzentriert lässt sie ein fein geknüpftes Netzwerk aus Kreisformen entstehen, deren Kreuzungspunkte und wachsende Spiralformen den Bildraum einnehmen, ehe sie die so entstandenen Felder mit Farbe füllt. Diese werden in einem eindeutigem, sich aus dem jeweiligen Thema ergebenen Spektrum angemischt, dem die 67-jährige Künstlerin akribisch folgt. Als Restauratorin mit dem Spezialgebiet der Wand- und Deckenmalerei hat sie jene Geduld und Sorgfalt erworben, die heute für ihr eigenes kreatives Schaffen so unentbehrlich sind. Sie beherrscht alle malerischen Techniken und Stile, wandte sich 1997 von der mit den Augen erfahrbaren Gegenständlichkeit ab, um mit der Holon-Malerei das Leben im Innern sichtbar zu machen.
So auch in den "Gedanken über die Einheit des Lebens": Violett-Töne von duftigem Lavendel zu edlem Lila, gehalten von tiefem Blau zwischen Ultramarin, Königsblau und Petrol, legen sich wie ein Mantel um das Gemüt. Winzige goldene Punkte umschließen als feinste Perlenketten jede Kreisform. Sie wirken als mikroskopisch kleine Kraftwerke in den Zellwänden, die dem jeweils umschlossenen Raum Kraft geben. Dort, wo sich die Gebilde überschneiden, zersplittern die immer kleiner werdenden Einheiten bis hin zum Chaos. Es fühlt sich an wie der Blick in die Tiefen des Universums, das von einer unsichtbaren Kraft gehalten und ernährt wird. Gleichzeitig könnte es die Aufnahme eines Elektronen-Mikroskops sein, welche das geheime Geschehen innerhalb jeder Spielart der Schöpfung auf unserem Planeten offenbart. Und die Energie spürbar macht, die in ihm wirkt und auf uns wirkt. Mikrokosmos und Makrokosmos werden auf wunderbare Weise als wesensgleich verstanden.
In vielerlei Hinsicht ergeben sich damit überraschende Parallelen zu Hilma af Klint, die bereits 1906 eine ungegenständliche Bildsprache entwickelte und so vor Kandinsky, Malewitsch und Mondrian in die Abstraktion vordrang. Erst im Jahr 2013 würdigten Ausstellungen in Stockholm und Berlin die bis dahin vergessene „Pionierin der Abstraktion“. Die Kuratorin Iris Müller-Westermann schreibt: „Hilma af Klints Werk gründet sich auf dem Bewusstsein einer geistigen Dimension unseres Daseins (...). Ihr ging es darum, Zusammenhänge im Bild sichtbar zu machen, die jenseits des Sichtbaren liegen“. Wie viele Intellektuelle und Kreative ihrer Zeit sah auch die schwedische Malerin keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Spiritualität: Beide Wege dienten zur Erforschung einer Realität, deren Grenzen sich bis heute immer weiter verschieben - nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der modernen Physik.
Hilma af Klint zeigte ihre wegweisenden Arbeiten nicht zu Lebzeiten – sie war davon überzeugt, dass sie nicht verstanden werden würden. Auch Antoinette Mack fürchtete lange, mit der heutigen Esoterik- und New-Age-Welle verwechselt zu werden. Ihre Bilder liegen jenseits aller Moden, sie gründen auf den tief empfundenen und erlebten Wahrheiten der großen philosophischen und geistigen Traditionen – von den Veden bis zu Hans-Peter Dürr. Es geht ihr um Wahrhaftigkeit jedes einzelnen jemals Erschaffenen – ob Gegenstand, Gedanke, Ereignis, Erlebnis oder Lebewesen. Um sein wahres Wesen. Ausgedrückt in Farbe, Form und Malerei.
Denn darum geht es in der Malerei, gleich welcher Art. Ein Naturalist scheint die mit den Augen, also mit den Sinnen wahrgenommene Realität wiederzugeben. Dieses vermeintliche Abbild wird zu etwas Schöpferischem, wenn es an das tiefere Wesen der Gesehenen heranreicht. Dann berührt uns Malerei. Denn sie verbindet etwas in uns mit dessen Gehalt, mit seiner Seele. Und erinnert uns damit an unseren eigenen Wesensgrund, an die Essenz unseres Seins, die ebenso in allem anderen, was ist, wirksam ist. Der Schweizer Philosoph Jean Gebser nennt dieses Erleben das „Diaphrane“, also das Durchscheinende: „Und die Maler: Ihre Aussagen sind, um nur ein Kriterium zu nennen, ein nicht anzweifelbares Echo auf die erfahrene Transparenz von Farbe und Form sowie auf das blitzartige Aufleuchten ihrer Herkunft“.
Die Holon Malerei zeigt auch auf der formalen Ebene ihre Einheit mit der Herkunft der Dinge. Sie benutzt den Kreis, die Spirale und den Punkt zwar gewissermaßen als Symbole. Diese sind jedoch keine Abbilder, nicht Vermittlung zu etwas anderem. Der Kreis stellt nichts dar, er ist die Form selbst, und die Spirale ist seine Bewegung, die Evolution des Kreises in die Zeit. Der Ursprung des Kreises ist der Punkt, der Ausgang, der Beginn. Jetzt. Zeitlos. Ewig. Alle Bilder sind in diesem Sinne un-mittelbar, direkt. Nicht mit Inhalt aufgeladen, sondern selbst Inhalt. Sie SIND. Und wie ihre Elemente Form und Farbe in ihrer Gesamtheit, als schöpferisches Werk, mit sich selbst identisch.
Da es die Farbe ist, die in Antoinette Macks Arbeiten als erstes auf den Betrachter einwirkt und ihn berührt, mahnt die Künstlerin auch hier vor vorschneller Typisierung. Denn verschiedene Menschen reagieren auf ein und die selbe Farbe höchst unterschiedlich - was nach ihrer Meinung eindeutig dafür spricht, das Farben nicht bloß visuell wahrgenommen werden. „Wir sollten uns unbedingt gegenwärtig halten, dass die Sinne immer gemeinsam wirken und einander ergänzen. Die Sinne überschneiden einander!“ Auch wenn Goethes Farbenlehre ihr eine wertvolle Grundlage bot, so weist sie doch bestimmten Farben oder Farbkompositionen keine unveränderlichen Attribute oder Ziele zu, sei es Wohlbefinden, Energie, Heilung oder ähnliches.
Wie aber können wir uns den Bildern nähern, ohne der intellektuellen Erklärungs-Versuchung zu erliegen, kultur-philosophisch abzuheben oder ins esoterische Schwärmen zu geraten? Dazu ein Hinweis der Holon-Malerin: „Wenn wir etwas mit ungeteilter Aufmerksamkeit anblicken, holen wir es in uns hinein. Darum hat jedes Bild eine ganz individuelle Wirkung auf jeden einzelnen Betrachter." Diese zu erleben, zu spüren und in jedem einzelnen der ausgereiften Bildwerke zu ergründen lädt Antoinette Mack die Menschen auf ebenso stille wie eindrückliche Weise ein.
Astrid Prühs M.A. Kunsthistorikerin und Kuratorin, im Juli 2023